Auf meinem Heimflug ließ ich die vergangenen neun Monate vor meinem Auge vorbeifliegen und ich war überglücklich über die Zeit, die ich in Bolivien verbringen durfte.
Ich erinnerte mich an die vielen neuen Freunde, die ich dort kennenlernte und an die vielen einzigartigen Erlebnisse. Dabei fragte ich mich, inwieweit mich diese Erfahrungen auch in Deutschland prägen würden.
Sollte ich jetzt vielleicht doch etwas Soziales anstelle eines Maschinenbaustudiums anstreben?
Welche Erkenntnisse habe ich gewonnen?
Und inwieweit kann ich diese in Deutschland nutzen?
Nur eines war mir klar: diese Erfahrungen haben mein Denken in vielen Bereichen verändert.
Schon relativ bald nach meiner Ankunft in Bolivien stellte ich fest, dass sich der Alltag weltweit (soweit ich das bis jetzt sagen kann) nicht wesentlich unterscheidet. Man geht tagsüber arbeiten oder erledigt sonstige Aufgaben und danach kann man Zeit mit der Familie oder Freunden verbringen. Oder man macht das, auf was man Lust hat: das können Hobbys sein, die man alleine ausübt aber auch Vereine oder Gruppen, in denen man gemeinsam mit anderen etwas unternimmt. Schon vor meinem Auslandsjahr war ich in diversen Sportvereinen und in der Feuerwehr aktiv, was mir sehr viel Spaß bereitete.
In Bolivien war ich meistens schon vor meinen Gasteltern und den spanischen Volontären mit meiner Arbeit als Lehrer fertig. So hatte ich abends noch Zeit und wollte diese sinnvoll nutzen. Gemeinsam mit Freunden traf ich mich nach der Schule, wobei wir hin und wieder kleine Kampagnen gegen häusliche Gewalt vorbereiteten oder uns beispielweise überlegten, wie wir anderen möglichst nachvollziehbar erklären können, dass es der Umwelt schadet, wenn man Müll einfach auf der Straße verbrennt. Zudem kamen auch hin und wieder arme Familien zu unserer Kommunität und wir redeten mit ihnen und boten ihnen Unterstützung auf verschiedene Art und Weise an. Entweder hatten wir selbst Kleidung o.ä. übrig und konnten ihnen diese direkt überreichen oder aber wir organisierten, meist über die pastorale Arbeit, Spendenaktionen, um Geld zu sammeln.
Besonders beeindruckte mich, dass viele Spendensammler, die selbst arm waren, trotzdem kein Problem damit hatten, dass sie selbst nichts vom Gewinn abbekamen. Sie waren einfach nur neidlos glücklich, dass sie etwas Gutes getan hatten. Mit dem gesammelten Geld konnten wir zum Beispiel lebenswichtige Operationen bezahlen oder einen Rollstuhl für einen Mann kaufen, der aufgrund einer Nervenkrankheit nicht mehr selbst laufen kann.
Dabei war ich sehr engagiert und verbrachte viel Zeit damit, diese Aktionen mit anderen vorzubereiten. Ich merkte, dass ich nach sozialer Arbeit fast immer glücklicher war als nach bezahlter Arbeit, da das Gefühl etwas Gutes zu tun unbezahlbar ist. Außerdem fiel mir auf, dass ich mich vor meiner Zeit in Bolivien fast ausschließlich um Menschen in meinem Umfeld gekümmert hatte und dabei oft vergessen hatte, dass es noch so viele weitere Menschen gibt, denen ich auch helfen kann.
So half ich beispielsweise nach meiner Rückkehr beim Kids-Camp (ein Ferienlager für Kinder aus armen Familien) und nehme mir regelmäßig Zeit für Kinder, die im Flüchtlingsheim wohnen.
Vor allem die Arbeit mit Kindern macht mir sehr viel Spaß, weil man dabei sehr vielfältig sein kann und Kinder immer gute Laune haben, wenn man sich Zeit für sich nimmt.
Selbst als mein Spanisch anfangs noch nicht so gut war, konnte ich mich schon mit den Kindern in der Vorschule unterhalten und mit ihnen spielen. Außerdem sind Kinder ehrlich und sagen, wenn ihnen etwas nicht gefällt oder wenn sie etwas anderes machen wollen. Ich hatte bei ihnen, im Gegensatz zu den meisten Jugendlichen und Erwachsenen, immer das Gefühl, dass sie offen waren.
Wenn Volontäre über die Maristen nach Bolivien kommen, entstehen Beziehungen zu anderen Maristenstandorten. So besteht die Möglichkeit, dass Jugendliche aus Bolivien ein Volontariat in Deutschland ableisten und dadurch wieder neue Jugendliche aus Deutschland für ein Auslandsjahr begeistern und so weiter. Dadurch wäre ein stetiger Austausch zwischen mehreren Kulturen möglich und viele Jugendlichen würde die Chance auf diesen tollen Erfahrungen haben.
Im Moment sind bereits drei Afrikanerinnen und eine Mexikanerin in Mindelheim als Freiwillige aktiv und auch einige Bekannte aus San José haben mich schon gefragt, ob es möglich wäre, dass sie für eine bestimmte Zeit in Deutschland als Volontär tätig sein können.
Letztendlich profitieren jedoch die Menschen vor Ort, denen man begegnet und mit denen man zusammenarbeitet, am meisten. Da es in Bolivien sehr viele Kinder gibt, sind die Klassen sehr groß und so ist es für einen Lehrer pro Klasse sehr schwierig, sich gleichermaßen um alle Kinder zu kümmern und besonders diejenigen zu unterstützen, die etwas noch nicht verstanden haben. Da ich zusätzlich zu der jeweiligen Klassenlehrerin im Klassenzimmer war, konnte ich mich besonders um diese Schüler/-innen kümmern. Auch habe ich mit vielen Menschen vor Ort sehr gute Diskussionen und Gespräche geführt und ich hatte das Gefühl, dass es sie sehr gefreut hat, mit jemanden zu sprechen, der einen distanzierten und neutralen Blick auf bestimmte Themen hat. Das gilt natürlich für Incomig-Volontäre genauso und deshalb hoffe ich, dass weiterhin Jugendliche die Chance wahrnehmen ins Ausland zu gehen.
Sehr beeindruckend finde ich die Gastfreundschaft der Bolivianer, die viel stärker als in Deutschland ist. So luden mich mehrmals Eltern meiner Schüler zu sich nach Hause auf einen Kaffee oder Chicha (typisches Getränk für San José) ein. Dabei war es unwichtig, ob die Familie arm oder reich war; sie versuchten ihr bestmögliches und waren zu Gästen sehr nett.
Auch in der Maristenkommunität, in der ich lebte, waren regelmäßig Gäste zu Besuch, die von uns immer herzlich empfangen wurden. Da ich für mein Visum mehrmals nach Santa Cruz reisen musste und es meistens sehr lange dauerte, übernachtete ich häufig bei den Brüdern dort. Auch als meine Familie zu Besuch kam, war es eine Selbstverständlichkeit, dass wir überall dort, wo es Maristenkommunitäten gibt, willkommen waren. Dadurch kommt man mit vielen Menschen aus verschiedenen Regionen und Ländern ins Gespräch und man weiß, dass es überall Menschen gibt, die einem in bestimmten Situationen oder bei Problemen helfen können.
Trotz all diesen positiven „sozialen“ Erfahrungen werde ich Maschinenbau studieren, doch diese Zeit in Bolivien bei mir sicher ein Leben lang einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Simon im September 2018