politisch gewollte Armut?
In Deutschland wird das Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich Hartz IV genannt, als Grundsicherung für Menschen gezahlt, deren monatliches Einkommen sonst nicht zum Leben reichen würde. Das sind nicht nur Arbeitslose, deswegen ist die Bezeichnung „Arbeitslosengeld“ eigentlich irreführend. So erhalten auch viele pflegende Angehörige oder Menschen, deren Gehalt das Existenzminimum nicht abdecken würde Hartz IV als Unterstützung. Das klingt in der Theorie gut, in der Praxis gibt es an Hartz IV viel Kritik. Diese Kritik greift so tief, dass die neue Regierung nun auch Hartz IV abschaffen und durch ein Bürger:innengeld ersetzen will. Aber was genau wird an Hartz IV kritisiert? Um das besser zu verstehen, hilft ein Blick auf die Begleitumstände der Entstehung von Hartz IV.
Hartz IV wird im Jahr 2005 eingeführt. In diesem Jahr liegt die Unterbeschäftigungsrate bei mehr als elf Prozent, Deutschland gilt als „der kranke Mann Europas“. Es herrscht eine große Abneigung gegen Arbeitslose und der Mythos vom arbeitslosen „Schmarotzer“ erfährt Anfang der 2000er auch dank der Medien Aufschwung. So zeichnen sowohl die BILD-Zeitung als auch die Privatsender das Bild von Hartz-IV-Empfänger*innen, die den ganzen Tag saufen, rauchen und faul auf dem Sofa liegen. Durch bezahlte Darsteller:innen im Nachmittagsfernsehen, die „Hartz IV spielen“ wird also ein Zerrbild der Realität geschaffen. Klischees über Sozialhilfeempfänger:innen werden immer wieder reproduziert, bis sie in das kollektive Bewusstsein eingesickert sind.
Die Agenda 2010
In diesem gesellschaftlichen Klima kommt Kanzler Gerhard Schröder ins Spiel. Mit der Agenda 2010, von Schröder auch „großer Plan für Deutschland“ genannt, möchte er den Sozialstaat umkrempeln. Sein Credo: Arbeitslose raus aus der „sozialen Hängematte“! Machen wir ihnen das Leben möglichst unbequem, dann sind sie auch motiviert zu arbeiten!
Dass die „soziale Hängematte“ auch vor der Agenda 2010 schon nicht besonders bequem war, sieht man allein schon daran, dass wohl der größte Teil der Bevölkerung schon damals nicht arbeitslos sein wollte – und das nicht nur wegen der feindlichen Stimmung gegen Arbeitslose.
Die Hartz-Gesetze
Welche Maßnahmen umfasste diese Agenda 2010 nun konkret? Die Hartz-Gesetze zum Beispiel. Dadurch wurden folgende Dinge möglich:
Durch die Zusammenlegung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe (Hartz IV /Arbeitslosengeld II) wurde die Arbeitslosenhilfe auf das niedrigere Niveau der Sozialhilfe gedrückt. Arbeitslose erhielten also ab diesem Punkt weniger Geld. Die Einstellung von Leih- und Zeitarbeiter:innen wurde erleichtert. Mit der Einführung von Jobcentern wurde ermöglicht, Menschen die Hartz 4 Sätze zu kürzen.
Schröder nannte diesen Ansatz „fördern und fordern“. Mittlerweile bezweifeln allerdings viele Menschen, dass es Schröder mit „fördern und fordern“ wirklich darum ging, Menschen zu fördern. Sie denken, dass mit der Agenda 2010 weniger die Menschen als ihre Arbeitskraft für Firmen gefordert wurde.
Sie sagen, dass viele Menschen durch die Hartz-Gesetze indirekt zum Annehmen von Arbeitsangeboten gezwungen wurden, die menschenunwürdig sind, zum Beispiel, weil sie zu gering bezahlt werden oder weil die Arbeitsverhältnisse auf Dauer der Gesundheit der Arbeiter*innen schaden könnte.
Wie Hartz-IV-Empfänger:innen mit Sanktionen unter Druck gesetzt werden
Zwar hätten die Hartz-IV-Empfänger:innen diese Arbeitsangebote theoretisch ablehnen können, in der Praxis hätte das allerdings zu Sanktionen, also zu Strafen für die Menschen geführt – durchgesetzt durch das Jobcenter. Eine mögliche Sanktion für das Ablehnen eines Arbeitsangebots ist das Kürzen des Hartz-IV-Satzes. Dass es diese Sanktion gibt, finden viele Menschen falsch, weil der Hartz-IV-Satz sowieso schon nur die allernotwendigsten Ausgaben abdeckt, das „Existenzminimum“. Wenn von dieser ohnehin kleinen Summe noch etwas abgezogen wird, kann es sein, dass das Geld nicht einmal mehr zum Leben reicht. Sieht so eine menschenwürdige Förderung aus?
Was Hartz IV mit niedrigen Löhnen für Arbeiter:innen zu tun hat
Eine weitere Kritik an den Sanktionen: sie tragen zur Entstehung eines Niedriglohnsektors bei. Auch die Möglichkeit des Aufstockens mit Hartz IV stärkt den Niedriglohnsektor in Deutschland. Was bedeutet das?
Viele Menschen in Deutschland arbeiten Vollzeit – und verdienen trotzdem nicht so viel Geld, dass es zum Leben reicht. Für sie besteht die Möglichkeit Hartz 4 als Aufstockung zu beantragen. So wird zwar garantiert, dass sie nicht unter dem Existenzminimum leben müssen. Manche halten es allerdings für den falschen Ansatz, Mittel aus dem Staatshaushalt dafür zu verwenden, dass Arbeiter:innen von ihrer Bezahlung leben können. Sie halten es stattdessen für die Pflicht des Staates mit politischen Mitteln von Arbeitgeber:innen einen anständigen Lohn für Beschäftigte einzufordern.
Gerhard Schröder, dessen Regierung Hartz IV eingeführt hat, gehört nicht zu diesen Menschen. Er freut sich 2005 beim Weltwirtschaftsforum in Davos: „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt“.
Alternativen
Die Kritiker:innen Schröders sagen: effektiver als Hartz-IV-Empfänger:innen mit Sanktionen indirekt zum Arbeiten für wenig Geld zu zwingen, wäre es, ihnen das zu vermitteln, was sie brauchen. Einen Therapieplatz zum Beispiel, wenn ein Hartz-IV-Empfänger aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht arbeitsfähig ist. Eine Nachmittagsbetreuung für das Kind der alleinerziehenden Mutter, damit sie im Alltag neben all der Fürsorgearbeit, die sie leistet, Raum für einen Job hat. Die Finanzierung des Physikstudiums der jungen Frau, die mit Hartz IV aufgewachsen ist und trotz aller Widerstände Abitur gemacht hat.
An den Wiedereingliederungsmaßnahmen, die es aktuell gibt, gibt es viel Kritik, weil sie oft eben nicht besonders bedürfnisorientiert sind. Selbst Mitarbeiter*innen der Jobcenter empfinden das häufig so, wie aus einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) hervorgeht.
Bei einer anonymisierten Online-Umfrage von 360 Vermittlungsfachkräften bewertete die Mehrheit der Befragten Eingliederungsvereinbarungen für drei Personengruppen als „weniger sinnvoll“: für motivierte Personen, für Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen und für Personen mit geringen Deutschkenntnissen.
Das Bürger:innengeld: nur ein neuer Name für Hartz IV?
Ab dem Jahr 2022/23 wird das Bürger:innengeld oder Grundeinkommen in Deutschland als Form der sozialen, staatlichen Hilfe an bedürftige Menschen gezahlt. Damit tritt es an die Stelle des bisherigen Arbeitslosengeld II, auch bekannt unter dem Namen Hartz IV.
Das Bürger:innengeld ist kein bedingungsloses Grundeinkommen, stattdessen ist die Zahlung an bestimmte Bedingungen geknüpft. Wichtigste Bedingung dabei ist die Bedürftigkeit.
Was ändert sich mit dem neuen Bürger:innengeld?
Die Regelsätze wurden nicht durch die neue Regierung erhöht. Sarah-Lee Heinrich von der Grünen Jugend dazu:
„Keine Erhöhung ist fatal, die Regelsätze sind unter dem Existenzminimum. Das hat nichts mit parteipolitischen Präferenzen zu tun. Das ist menschenunwürdig. Kann man nicht schönreden.“
Die Sanktionen sollen ausgesetzt werden. Ein Aussetzen der Sanktionen ist keine Abschaffung. Dennoch stehen die Chancen gut, dass sie nicht in jetziger Form bestehen bleiben.
Mehr Zuschüsse: 150 Euro Zuschuss bei Weiterbildung und ein Zuschuss, wenn Beratung in Anspruch genommen wird.
Die Anrechnung der Einkommen von Kindern und Jugendlichen soll abgeschafft werden.
Reformen im Jobcenter: Es soll nicht mehr in prekäre Arbeit vermittelt werden.
Der Vermittlungsvorrang wird abgeschafft. Das bedeutet, dass Menschen nicht mehr aus Weiter- und Ausbildungen rausgeholt werden dürfen, um in andere Jobs vermittelt zu werden.
Die Radium Girls – vergessene Kämpferinnen
Als Radium Girls wurden in den Vereinigten Staaten Fabrikarbeiterinnen bezeichnet, die sich bei der Arbeit eine Radiumvergiftung zugezogen hatten. Ihre Arbeit hatte darin bestanden, Zifferblätter von Uhren mit radioaktiver Leuchtfarbe zu versehen.
Die Frauen nahmen dabei gefährliche Dosen Radium auf, weil sie die Pinsel anleckten, um feine Linien ziehen zu können. Zudem bemalten einige ihre Fingernägel mit der Farbe. Viele erkrankten deswegen schwer, einige von ihnen starben. Zwar war die Schädlichkeit von Radium ursprünglich nicht bekannt, aber die auffällige Häufung von Erkrankungen wurde über Jahre hinweg ignoriert und sogar vertuscht.
Die Folge waren mehrere Todesopfer: In Connecticut starben 30 der verstrahlten Arbeiterinnen, in Illinois 35 und in New Jersey 41. Nach anderen Angaben waren es allein in Ottawa 40 Todesopfer.
Fünf der Frauen aus New Jersey verklagten ihren Arbeitgeber. Der Prozess ist Präzedenzfall für Arbeiter:innen, die durch ihre Arbeit erkranken und ihren Arbeitgeber verklagen. Um sie geht es in der Graphic Novel „Radium Girls – Ihr Kampf um Gerechtigkeit“ von Cy, die wir euch an dieser Stelle empfehlen möchten.
Wir finden es wichtig an Geschichten, wie die der Radium Girls zu erinnern. Denn wir verdanken diesen Kämpferinnen viel. Außerdem zeigt ihre Geschichte eindrücklich, dass der Reichtum der Einen oft auf Kosten derjenigen geht, die weniger haben. Aber sie beweist auch, wie weit man kommen kann, wenn man sich gemeinsam gegen diese Ungerechtigkeit organisiert. Damit können die Radium Girls Inspiration für alle Menschen sein, die sich heute in der Gewerkschaft für die Rechte von Arbeitnehmer:innen einsetzen.
Empfehlungen
YouTube
Das „Klassenzimmer“ der Schaubühne Berlin mit Vanessa Vu
In der monatlichen Gesprächsreihe „Klassenzimmer“ in der Schaubühne lädt die Journalistin Vanessa Vu in ihr damaliges Kinderzimmer: Stockbett, Matratze und Röhrenfernsehen – denn nach einer langen Zeit in einer Gemeinschaftsunterkunft war dies der Beginn eines sozialen Aufstiegs. Das passt: denn die Frage, über die Vanessa mit ihren Gäst:innen spricht, ist die Frage nach der Herkunft: „Woher kommst du?“. Die meisten beantworten sie geografisch – aber ist es wirklich der Ort, der uns prägt? Vanessa Vu spricht mit ihren Gäst:innen über die soziale Herkunft. Und wie sie das tut, ist schmerzhaft und schön zugleich.
13 Fragen
Im Format „13 Fragen“ versuchen Salwa Houmsi und Jo Schück, die kontrovers positionierten Teilnehmer:innen ins Mittelfeld zu führen. Mit dem Ziel, Kompromisse unter ihnen zu schließen. Das gelingt nicht immer. Trotzdem kann man durch die verschiedenen Perspektiven der Teilnehmer:innen als Zuschauerin viel dazu lernen und auch die eigene Haltung immer wieder hinterfragen. Zum Thema Vermögensgerechtigkeit besonders interessant sind die Folgen zu den Fragen „Ist der Kapitalismus am Ende?“, „Erbe neu denken: Ist Erben gerecht“ und „Brauchen wir ein bedingungsloses Grundeinkommen für mehr Gerechtigkeit?“.
Auf der Couch: Teufelskreis Hartz 4: Wie kommt man raus aus der Armut? Auf der Couch bei Psychologe Dr. Leon Windscheid mit Jeremias Thiel und Emitis Pohl
In dieser Ausgabe „Auf der Couch“ sind Jeremias Thiel und Emitis Pohl zu Gast. Beide haben den Bildungsaufstieg geschafft. Während jedoch Jeremias Thiel, Kind von arbeitslosen Eltern, heute Mitglied der Jusos, sich damit als Ausnahme begreift, glaubt Emitis Pohl an den „German Dream“. Jede:r, der den Aufstieg in Deutschland wollen würde, könne ihn auch schaffen. Psychologe Windscheid versucht zwischen den beiden zu vermitteln.
Jung&Naiv
Auf dem YouTube Kanal von Tilo Jung finden sich mittlerweile 564 Interviews mit Politiker:innen, Philosoph:innen, Forscher:innen und Anderen, die etwas zu sagen haben. Über den Niedriglohnsektor und die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Organisierung spricht Jung mit IG Metall Vorsitzender Jörg Hoffmann (Folge 561), Sarah-Lee Heinrich, Vorsitzende der Grünen Jugend erzählt über das Aufwachsen mit Hartz IV und erläutert, welche Veränderungen der sozialen Sicherungssysteme aus ihrer Sicht von Nöten wären (Folge 539). Bildungsforscher und Soziologe Aladin El- Mafaalani spricht in Folge 535 über Bildung als Kapital, aber auch darüber, dass Bildung allein für den Aufstieg noch nicht reicht, über die Notwendigkeit ökonomischer Umverteilung und die Verknüpfung von Chancenungleichheit und Armut. Millionen- Erbin Marlene Engelhorn von „Tax me now“ fordert Vermögensbesteuerung (Folge 533). Philosophin Eva von Redecker will eine solidarischere Gesellschaft (Folge 479).
Empfehlenswerte Instagramprofile:
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Podcasts
Dominik Bloh im Gespräch mit Eva Schulz: „Dominik Bloh, wie hast du auf der Straße überlebt?“
Über seinen persönlichen Weg in die Obdachlosigkeit, strukturelle Diskriminierung, Entsolidarisierung und seine Ideen, wie die Gesellschaft sein müsste, damit Obdachlosigkeit gar nicht erst entsteht, spricht Dominik Bloh, Autor des Buchs „Unter Palmen aus Stahl“ mit Eva Schulz. Ein wichtiges Gespräch, das zeigt, dass soziale Netze in Deutschland keineswegs so engmaschig sind, wie immer getan wird – dass Obdachlosigkeit also wirklich jede:n treffen kann. Dass vermittelt, wie wichtig es ist, dass sowohl unsere Gesellschaft als auch unsere Politik anfangen, nicht nur immer über Solidarität zu sprechen, sondern solidarisch zu leben. Und wie das gehen kann, das mit dem „Solidarität leben“ – auch das zeigt Dominik Bloh sehr gut.
„Wohlstand für Alle“ von Wolfgang M. Schmitt und Ole Nyemon
Wer mehr lernen möchte über die Ursprünge der Armut, der sollte Wohlstand für Alle hören! In ihrem Podcast erklären Ole Nyemon und Wolfgang M. Schmitt mal theoretisch Begriffe wie Ausbeutung oder Mehrwert bei Karl Marx, dann wiederum zeigen sie auf, wie es heute sein kann, dass Menschen trotz einer Anstellung, bei der Mindestlohn gezahlt wird, arm sind oder sprechen mit Menschen, die Teil von Bewegungen für mehr soziale Gerechtigkeit sind. (Auf Spotify und YouTube)
„Rice and Shine: Armut und Aufstieg“, „Kanackische Welle: Bildung und Bildungsaufstieg“
Beide Folgen gehen in eine ähnliche Richtung, beide sind sehr empfehlenswert. Es geht um den Traum vom Aufstieg, das Aufwachsen mit wenig Geld, den Opfern der Elterngeneration und dem damit verknüpften Druck. Bei Rice and Shine sprechen Vanessa Vu und Minh Thu Tran aus einer vietdeutschen Perspektive über diese Themen, bei der „Kanackischen Welle“ hosten Malcolm Ohanwe und Marcel Aburakia. Dort liegt der Fokus noch stärker auf dem Aspekt der Bildung.
Bücher
„Die Elenden“ von Anna Mayr
Anna Mayr schreibt über die Geschichte der Armut. Einen besonderen Fokus legt sie dabei auf die gesellschaftlichen Funktion der Arbeitslosigkeit. Auch ihre Kritik an Hartz IV, aber auch an Ideen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen, ist interessant.
„Bedingungsloses Grundeinkommen. Grundlagentexte“ von Philip Kovce
Philip Kovce sieht als einen Weg aus der Armut im Gegensatz zu Anna Mayr das bedingungslose Grundeinkommen. Auch seine Perspektive ist lesenswert.
„Unter Palmen aus Stahl. Die Geschichte eines Straßenjungen“ von Dominik Bloh und „Ohne Obdach: Leben auf der Straße“ von Matthias Unterwegs
Beide Bücher sind Auseinandersetzungen mit dem Leben in Obdachlosigkeit und der Frage, wie es sein kann, dass Menschen in Deutschland im 21. Jahrhundert auf der Straße leben müssen. Während Dominik Bloh jedoch jahrelang unfreiwillig auf der Straße gelebt hat, hat sich Mathias Unterwegs freiwillig dazu entschieden, drei Monate auf der Straße zu leben, um seine Sicht auf das Phänomen Obdachlosigkeit zu verschärfen. Interessant bei Unterwegs ist der Blick auf die prozessorientierten Psychologie, die danach fragt, welche Ressourcen marginalisierte Teile eines Systems in sich tragen, die dieses System dringend braucht, um zu gesunden.
„Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty
Thomas Pikettys „Das Kapital im 21.Jahrhundert“ ist ein ziemlich dicker Wälzer, der aufzeigt, wie ungleich Vermögen heute verteilt sind und vom Wachstum, das vermeintlich allen helfen soll, am Ende nur die Reichsten profitieren. Piketty will wissen, warum das so ist – und was man dagegen tun kann, dass sich die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter öffnet.
„Armut, Kinder der Ungleichheit: Wie sich die Gesellschaft Ihrer Zukunft beraubt“ von Christoph Butterwegge
Butterwege schreibt über die Ungleichheit in Deutschland, darüber, wie sie insbesondere Kindern schadet, und nicht zuletzt darüber, welches Potenzial unserer Gesellschaft durch diesen Missstand verloren geht.
„Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance: Wie sich Armut in Deutschland anfühlt und was sich ändern muss“ von Jeremias Thiel
Als Jeremias Thiel elf Jahre alt ist, macht er sich auf den Weg zum Jugendamt. Er hält es zu Hause nicht mehr aus, hat Angst, der Armut und Verwahrlosung, die dort herrschen, niemals entkommen zu können. Seine Eltern sind psychisch krank und leben von Hartz IV, die häusliche Situation ist mehr als schwierig. Von da an lebt er im SOS-Jugendhaus, bis er als Stipendiat auf ein internationales College geht und im Herbst 2019 sein Studium in den USA beginnt. Er ist sich sicher, dass viele, die in ähnlichen Verhältnissen leben, nicht die Möglichkeit haben, sich daraus zu befreien. In diesem Buch erzählt Jeremias seine Geschichte und liefert zugleich einen bewegenden und aufrüttelnden Appell für mehr soziale Gerechtigkeit.
„Haben oder Sein“ von Erich Fromm
Fromm skizziert in „Haben oder Sein“ eine Analyse der westlichen Gesellschaft, die aus seiner Sicht zunehmend vom Streben nach Besitz, vom markt- und konsumorientierten „Haben“ dominiert wird. Dem stellt er die Geisteshaltung des „Seins“ gegenüber, eine Haltung, in der Besitztümer keine Rolle spielen, und beruft sich auf zahlreiche philosophische und religiöse Ansätze, die diese Haltung befürworten, darunter Buddha, Jesus und Meister Eckhart. Fromm skizziert im letzten Teil des Buches, wie die Gesellschaft die Geisteshaltung des Habens zugunsten einer Haltung des Seins überwinden könnte.
„Revolution für das Leben“ von Eva von Redecker
Auch Eva von Redecker zeigt, wie sehr uns im Kapitalismus das Bedürfnis nach dem Haben prägt. Sie erkennt in denn den neuen Protestformen die Anfänge einer Revolution für das Leben, die unseren grundlegenden Tätigkeiten eine neue solidarische Form verspricht.
„Rosa Luxemburg. Die Graphic Novel“ von Kate Evans
Die sehr schön illustrierte Graphic Novel gibt einen Einblick in das Leben und Denken von Rosa Luxemburg, zeitlebens Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. Wer gleich mit dem Lesen von Luxemburgs Texten anfangen möchte, kann mit dem kleinen Bändchen „Rosa Luxemburg. Friedensutopien und Hundepolitik. Schriften und Reden“ beginnen, das im Suhrkamp Verlag erschienen ist.
„Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht
Zentrales Thema des Stücks ist der Konflikt zwischen Moral und miserablen Lebensbedingungen. So fragt das Theaterstück nach der Möglichkeit des einzelnen Menschen trotz einer ausbeuterischen Lebenswirklichkeit gut zu sein. Eine Frage, die sicher noch heute im Kampf für soziale Gerechtigkeit, relevant ist. In dem Stück erschwert die Notwendigkeit der handelnden Figuren ihr eigenes Überleben zu sichern ihre Möglichkeiten, sich ethisch vorbildlich zu verhalten. Das wird deutlich als drei Götter auf die Erde kommen, um in Sezuan nach einem guten Menschen zu suchen.
Quellen:
Glossar: Sozialrecht.
Arbeitslosengeld II (ALG II, „Hartz IV“), in: Webpräsenz der Caritas Deutschland, zuletzt abgerufen am 11.4.2022 unter: https://www.caritas.de/glossare/arbeitslosengeld-ii-alg-ii-hartz-iv.
Arbeitslosengeld II – Hartz IV, in: Online-Magazin der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, zuletzt abgerufen am 11.4. 2022 unter:
Wohlstand für Alle, „Die Hartz 4 Ideologie“ , Episode 08, erschienen am 2.10.2019, zuletzt abgerufen am 11.4.2022 unter:https://open.spotify.com/episode/2JMMBGKedz0R2y0KhZpInz?si=w7PEmDjFSOmbDdpGGeZuoQ&utm_source=copy-link.
Hartz IV-Leistungen. Mehr als nur der Regelsatz, zuletzt abgerufen am 11.4.2022 unter:
https://www.hartz4.de/leistungen/.
Piekarz, P., Bürgergeld statt Hartz IV – 15 Änderungen aus dem Koalitionsvertrag im Überblick, zuletzt abgerufen am 11.4.2022 unter: https://www.hartziv.org/news/20211125-buergergeld-statt-hartz-iv-15-aenderungen-im-ueberblick.html.
Cy, Die Radium Girls. Ihr Kampf um Gerechtigkeit, Hamburg 2022